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FILMARBEIT

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FILMARBEIT

VON MATTHIAS VON TESMAR

 

„Die Geschwindigkeit macht das Sehen zum Rohstoff, mit zunehmender Beschleunigung wird das Reisen zum Filmen: es erzeugt nicht so sehr Bilder als vielmehr unglaubliche und übernatürliche neue Erinnerungsspuren.“ (P. Virilio) Als die Freie Klasse sich 1994 aufmachte, die Münchner Feldherrnhalle zurück nach Florenz zu bringen, benutzte sie dazu keinen Tieflader und keinen Sonderzug: Man ging zu Fuß und machte sich damit einer historischen transalpinen Sehnsucht gleich, die bereits in früheren Jahrhunderten christliche Pilger wie Kunstliebhaber in den Süden gebracht hatte. Die teilweise offenbar durchaus heiklen Etappen der zweiwöchigen Reise sind fotografisch dokumentiert und erzeugen gleichsam realistische, natürliche „Erinnerungsspuren“ von narrativem Charakter: Die „Durchquerung des Brannenburger Endmoränengebiets“, der „Einstieg in die Ötz-Eisack-Passage“, schließlich die „Begrüßung durch die Bürger von Florenz“ sind einige der zahlreichen Stationen betitelt. Der Weg erscheint als logisch stringente Annäherung an ein gesetztes Ziel.

 

Bereits der Titel der Arbeit ‚Helden haben kein Gepäck‘ weckt Erwartungen einer beschleunigten Moderne. Das klingt cool nach unterwegs sein, Abenteuer meistern, leicht und flexibel agieren können. Das Gestaltungsmedium Video schürt zusätzlich die Erwartung von Geschwindigkeit und Rasanz. Der erste Eindruck enttäuscht. Unbewegt blickt die Kamera auf Gleisanlagen. Doch die Helden sind bereits präsent. Vom Bildausschnitt auf Hüfthöhe reduziert, kommen Typen ins Bild, verharren, hantieren – die Hände in einsatzbereiten gelben Arbeitshandschuhen – an ihren Pistolenhalftern, drehen sich in eine andere Richtung, machen wieder ein paar Schritte auf den Gleisen, um erneut stehen zu bleiben. Der unter den Sohlen knirschende Schotter vermittelt ein Gefühl angespannter Erwartung. 

 

Doch eine Gefahr ist nicht erkennbar. Auch die Erwartung von Geschwindigkeit wird enttäuscht. Zwar fahren nach einigen Minuten ein, zwei Züge in der Ferne vorüber, offenbar jedoch, ohne mit der Situation der wartenden Helden zu tun zu haben. Das Verkehrsmittel, das im 19. Jahrhundert als Nonplusultra der Geschwindigkeit galt und auch heute als ES, ICE oder TGV stets neue Rekorde liefert, lässt die Wartenden außen vor, existiert nur als Möglichkeit, die an der von Minute zu Minute unerklärlicher werdenden Lage nichts zu ändern vermag.

 

Auf den ersten Blick lässig-bewegt kommt das aus der gleichen Zeit stammende Roadmovie daher, das Leute beim Tankstopp zeigt. Doch es erweist sich als Movie ohne road. Der Weg reicht nicht einmal bis zum nächsten Stau. Die Erwartung, gleich entspannt durch die Nacht zu cruisen, bleibt unerfüllt. Die Vorbereitungen enden an der Tankstellenausfahrt und enden immer wieder dort, denn aus dem Aufbruch gibt es kein Entrinnen, das Versprechen automobiler Dynamik bleibt uneingelöst. Jahre zuvor hatte man sich noch zuversichtlich gegeben. We shall overcome, die Feel-good-Hymne der Woodstockgeneration, in dieser Coverversion so etwas wie das erste und einzig wahre Musikvideo der Freien Klasse, lässt auf eine bessere Welt hoffen: ohne triste Farbigkeit und entindividualisierte Gesichter. Doch Warten und Hoffen allein ist nicht das Ding der Freien Klasse: Das Expeditionsvideo „Leben in der Kälte“ weist einen Weg, wie es durch planvolles, strategisches Handeln gelingen kann voranzukommen.

 

Von einer Handkamera begleitet, kämpft man sich Schritt für Schritt voran. Räume ohne Tageslicht mit grauen Wänden und scheinbar rätselhaften Objekten definieren den Ort. Die Szenerie gleicht einer Karikatur der frühen Hollywoodästhetik, als der Originalschauplatz verpönt war und man mit Kakteen besetzte Sanddünen in einer Studioumgebung installierte. Aber anders als Hollywood gibt die Freie Klasse die wahre Umgebung preis – „Expedition im Bierkeller mit Liveübertragung in den Biergarten“ lautet sachlich der Untertitel der zugrunde liegenden Arktis- Performance – , jedoch ohne von der behaupteten Polarforschung abzulassen. Also wird ein ganzer Apparat an Gimmicks aufgefahren, um den Betrachter in Stimmung zu versetzen. Ein Berg an Eiswürfeln wird ins Bild gerückt, der Soundtrack gibt einen tobenden Orkan, vorsichtig tasten die Expeditionsteilnehmer sich voran, laute Zurufe gestalten „kritische Situationen“ dramatisch – eben ein richtiges Abenteuer. Die Aufbereitung des Bildmaterials tut ein Übriges. Bildstörungen, eingeblendete Skalen und Drahtmodelle oder blinkende Hinweise wie „Kein Kontakt zur Leitstelle!“ lassen das Ganze mit dem Aplomb populärer Wissenschaftlichkeit daherkommen. Was jeder Freund von Naturdokumentationen liebt, die schöne Landschaft und das Wagnis, sich in ihr zu bewegen, zerfällt hier. Das Handeln ist vom üblicherweise zugeordneten räumlichen bzw. logischen Kontext befreit und autonom, Anlass und Zweck der Unternehmung sind bedeutungslos. Dass verantwortliches Tun Sinn macht, ist als Feldversuch dokumentiert. Wir sehen Agraringenieure, die einen Acker sorgsam in Handarbeit bestellen, indem sie Kartoffelchips aussäen, um sie wenig später mit Zitronensaft(?) aus Plastikfläschchen zu düngen. Sorgfalt und Fleiß werden belohnt, denn schließlich kommt es zur Ernte der Feldfrüchte: Kartoffeln und Zitronen. Ein Ergebnis, ebenso lächerlich wie verheißungsvoll. Ein Förderband, dessen Laufgeräusch das Geschehen akustisch prägnant begleitet, wird erst zum Schluss ins Bild gerückt – leeres Pathos moderner Effizienz.

 

Ist dieses Video ein Lehrstück? Vermittelt es uns den Erfolg kooperativen Handelns? Die Freie Kasse lotet in ihren Videos die Tiefen und Untiefen möglicher Handlungsmotivationen aus, stellt den Primat der Zeitökonomie auf die Probe und testet empirische Verfahren auf ihre Gültigkeit. Dass dabei nicht jeder Prozess gelingen kann, liegt auf der Hand. Wo strategisch gehandelt wird, geht auch mal was daneben. Es kommt darauf an, die richtigen Fragen zu stellen, um dem Loop des Absurden zu entkommen.