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Museum der freien Klasse 2003

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Museum der freien Klasse

2003

Der gelbe Parasit

Die Freie Klasse stellt den Gewinnerentwurf für das Museum der Freien Klasse vor.

Architekturgalerie

München, 2003

 

 

Alles erfunden

Architektur als Denkraum

Das Spiel ist unberechenbar. Wer die Regeln erkannt hat, wird bei der nächsten Runde enttäuscht. Wer nach der ästhetischen Linie sucht, findet Mäander. Höchstens dieselbe Farbe hier und da, Gelb. Gelb wie die Sonne, gelb wie Gummistiefel und Friesennerz, Gelb wie Reclam-Heftchen. Das Spiel beginnt: Sonne, Regen, Basisliteratur. Museum, Wettbewerb, Architektur. Doch Vorsicht, es geht weiter. Jedenfalls geht es um mehr als um einen zweifelhaften Architektenwettbewerb für einen komischen Museums-Anbau an die ehrwürdige Pinakothek der Moderne in München. So wie es Marcel Duchamp bei seinem Flaschenständer auch um mehr ging als um den Flaschenständer. Oder wie es ihm, anders herum gesagt, natürlich gerade darum ging, dass der Flaschenständer damals eben gerade als Flaschenständer in jener Welt zu stehen kam. Als ein neuer Planet, der in die bestehende Welt mit seiner eigenen einschlägt und eine Art ästhetischen Schock auslöst. Ein solches Werk kann man nicht einfach als „groben Unfug“ abtun, meint der große deutsche Hermeneutiker Hans-Georg Gadamer in seinen Salzburger Vorlesungen über „Die Aktualität des Schönen“. Und es scheint angebracht, die Architektur zunächst beiseite zu lassen und mit Gadamer als Ausgangspunkt allen Betrachtens die hermeneutische Identität eines Werkes ins Spiel zu bringen. Sie, so Gadamer, besteht „eben darin, dass etwas daran ,zu verstehen‘ ist, dass es als das, was es ,meint‘ oder ,sagt‘, verstanden werden will. Das ist eine von dem ,Werk‘ ergehende Forderung, die auf ihre Einlösung wartet. Sie verlangt eine Antwort, die nur von dem gegeben werden kann, der die Forderung annahm. Und diese Anwort muss seine eigene Antwort sein, die er selber tätig erbringt. Der Mitspieler gehört zum Spiel.“

Mitspielen heißt, den luftmatratzenähnlichen gelben Fortsatz an der Seite der Pinakothek nicht als Luftnummer abzutun. Sich die nicht existierenden Konkurrenzentwürfe des nie ausgelobten Architektenwettbewerbs einmal vorzustellen. Den Anspruch auf ein Museum für die „Freien Klassen“ dieser Welt nicht nur als einen lokal begrenzten aufzufassen. Was dann entsteht, bietet mehr Denkraum für die Kunst als das projektierte Museum je Ausstellungsraum für Freie Klassen bereit hielte. Es geht auch weit über jene perfekten Computerspielchen hinaus, mit denen unsere niederländischen Architektenkollegen unseren Gedanken ästhetische Fesseln anlegen statt ihnen Flügel zu verleihen. Um professionelle Computerbilder und Modellbautechnik scheren sich die Museumsentwerfer nicht. Architektur beiseite. Hauptsache, der Raum für die „Freien“ ist da wo er hingehört: gleich an der Wange der „Etablierten“, eine pralle Zecke an der aalglatten Pinakothek, oder auch eine jugendlich gewagte Tolle auf dem neuen, jedoch schon ein wenig ältlichen Haupt des Münchner Musentempels... Nichts für ungut, Herr Braunfels, möchte man dem Erbauer der richtigen Architektur zurufen, es geht ja gar nicht um richtige Architektur! Alles erfunden. Wehren Sie sich weiter gegen echte scheußliche Plakate auf echtem herrlichen Beton, aber loben Sie das All, aus dem neue Vorstellungswelten entspringen und als gelbe Meteoriten auf unsere Häupter und Häuser niedergehen! [Fortsetzung S. 10]

 

Die Freie Klasse erfindet sich schon seit längerem. Fünf Kollegen aus unterschiedlichen Disziplinen gründeten sie 1987 an der Münchner Kunstakademie: Hermann Hiller, Wilhelm Koch, Gottfried Weber, Wolfgang Groh, Thomas Demand, später kam Rolf Homann hinzu. Freie Klasse? Frei? – Klasse! Frei von Architektur, muss das für den einen geheißen haben, frei von Grafikdesign für den anderen, frei von Kunsterziehung für den nächsten, und überhaupt frei von all dem angewandten Zeug. Vielleicht auch frei von Professoren, frei von Meisterklassen, frei von den Klassen der Gesellschaft? Nicht zuletzt hatte Beuys in den Sechzigern an der Düsseldorfer Kunstakademie seine „Freie Klasse“ gegründet als Klasse mit freiem Zugang, ohne Selektion, unter dem Motto: Wer sich von den Professoren handverlesen lässt, ist selber schuld – der Rest zu mir! Doch die Münchner Freien hielten sich nicht lange an berühmten Altvorderen von jenseits des Weißwurstäquators auf. Sie schossen sich lieber selber auf die Umlaufbahn. Sie entdeckten ihren eigenen „Planeten der Freien Klasse“ und stellten ihn 1993 im Kulturpalast von Sofia, Bulgarien, aus. Er bestand aus Häusern. Aber natürlich ging es auch hier nicht um Architektur, sondern um das Spiel mit den Häusern und dem Denkraum dahinter. Ausgestellt waren die Häuser der Schönheit, der Freude, der Bosheit, des Schlauseins... Architektur als Allegorie. Im dunklen Raum des Kulturpalastes standen die Häuser als leuchtende Gewänder, Röhren, Gerippe im Universum und standen für sich, für ihre Idee und für den Schwindel mit der Idee.

In seinem Vortrag über „Die Aktualität des Schönen“ bezweifelt Gadamer, dass man der heutigen Kunst mit den Mitteln der klassischen Ästhetik nahe kommen könne. Er schlägt vor, auf ein paar grundlegende menschliche Erfahrungen zurückzugreifen und die Kunst einmal aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten: nämlich als Spiel, Symbol und Fest. Ohne das Spiel, meint Gadamer, ist menschliche Kultur überhaupt nicht denkbar. Spiel ist für ihn zunächst das Hin und Her einer Bewegung ohne Ziel oder Zweck, und zwar einer Bewegung, die aus eigenem Antrieb entsteht, aus einem elementaren Überschuss an Lebendigkeit, wie es sich etwa im Spiel von jungen Tieren beobachten lässt. Wenn hingegen Menschen spielen, kommt die Vernunft hinzu – Menschen disziplinieren ihre Spielbewegungen so, als ob da Zwecke wären, wenn zum Beispiel ein Kind zählt, wie oft der Ball auf den Boden schlagen kann, bevor er ihm entgleitet. Das Ziel, auf das es hier ankommt, ist zwar ein zweckloses Verhalten, aber es ist als solches selber gemeint. Mit Anstrengung und Ehrgeiz und ernstester Hingabe wird in dieser Weise etwas gemeint – und auch der Zuschauer muss es meinen. Spiel ist also letzten Endes Selbstdarstellung der Spielbewegung. „Komm mit auf unseren Planeten“, wirbt die Freie Klasse. Architektur als Spielbewegung.

Das Symbol, erläutert Gadamer weiter, ist ein technisches Wort der griechischen Sprache und bedeutet

„Erinnerungsscherbe“. Ein Gastfreund gibt seinem Gast die so genannte „tessera hospitalis“, das heißt, er bricht eine Scherbe durch, behält die eine Hälfte selber und gibt seinem Gast die andere, damit ein Nachkomme dieses Gastes, der in dreißig oder fünfzig Jahren wieder einmal ins Haus kommt, durch das Zusammenfügen dieser Scherben erkannt werden kann. Symbol ist also etwas, woran man jemanden als Altbekannten identifiziert. Auch in der Kunst geht es um das Erkennen von etwas, das nicht unmittelbar in dem sichtbaren und verständlichen Anblick liegt. Die Scherben, die da zusammengebracht werden müssen, sind die des sinnlich Wahrnehmbaren und die der Idee dahinter. Dass etwas schön ist, und dass da etwas dahinter steckt. Wenn Hegel im Kunstschönen das „sinnliche Scheinen der Idee“ erkennen will, hält Gadamer dagegen, dass das Werk als Werk, und nicht nur als Übermittler einer Botschaft zu uns spricht: „Die Erwartung, dass man den Sinngehalt, der uns aus Kunst anspricht, im Begriff einholen kann, hat Kunst immer schon auf gefährliche Weise überholt.“ Drum lässt sich im bulgarischen Kulturpalast das Haus der Schönheit einfach so betrachten: Wie unter den feinen Falten des langgestreckten, schimmernden Zelt-Hauses zwei schlanke Fesseln herausschauen und in charmanten Schuhen enden. Halb Kleid, halb Haus, halb Mensch, halb Werk. Halb schön, halb Schönheit.

Symbolisch besiegelten die Fünf der Freien Klasse auch ihre Arbeit für die Münchner Feldherrnhalle. Einst von Ludwig I. als Kopfbau seiner Ludwigs-Prachtstraße nach dem Vorbild der Florentiner Loggia dei Lanzi erbaut und von den Nazis nach dem misslungenen Putsch von 1923 als Mahnmal der Hauptstadt der Bewegung stilisiert, feierte München 1994 das 150-jährige Bestehen. Die Freie Klasse schlug vor, nach italienischem Vorbild eine Wäscheleine zu spannen und Unterhosen aufzuhängen (dem deutschen Zweckentfremden entsprechend braune) und oben auf dem Dach eine Caféterrasse zu installieren. Der Vorschlag fand keinen Anklang, und so entschlossen sich die fünf Freunde, die Feldherrnhalle an ihren Ursprungsort abzutransportieren. Symbolisch natürlich, aber nach Italien gingen sie tatsächlich. Man sieht sie ein kinoleinwandgroßes Tafelbild der Feldherrnhalle über den Brenner tragen, in der Poebene rasten, die Florentiner Stadtgrenze passieren, am Rustiko-Erdgeschoss des Palazzo Pitti vorbeischreiten, vor der Loggia dei Lanzi ankommen. Und da ihre Aktion mit „Lernen von Italien“ überschrieben war, brachten sie auch eine Lektion zurück nach München, die dann vielleicht brauchbarer sein würde als die Caféterrasse und die Unterhosen: ein wiederum kinoleinwandgroßes Bild des Palazzo della Civiltà aus dem römischen EUR-Viertel, erbaut von Mussolini im faschistischen Italien, ein gestrenger Betonkubus, mehr Parkgarage als Palast. Als Bauschild vor der Feldherrnhalle platziert, glaubte so mancher Münchner Passant, hier würde die Ruhmeshalle bald einem Zweckbau weichen. Aufmerksamere Naturen erkannten die Parallelität – Feldherrnhalle wie Mussolini-Palast sind Symbole der Diktatur. Architektur als Entlarvung, wo der Architektur das Fest auf dem Dach verwehrt wurde.

Das Fest feierte die Freie Klasse später im Rahmen ihrer „Jour Fix“ genannten Treffen auf einem anderen Münchner Dach. Nämlich auf dem „Haus der Kunst“, das einst als „Haus der Deutschen Kunst“ erbaut worden war. Am 8. Mai 1995 feierte Deutschland landauf landab 50 Jahre Kriegsende. Welcher Ort hätte in München besser gepasst als das Dach des einstigen Nazi-Baus, gegenüber die amerikanische Botschaft, vor sich die Freiheit des Englischen Gartens, über sich nur der Himmel? Amerikanische Jazzmusik aus den Vierzigern erklang, bis ein Wolkenbruch das Fest ebenso selbstverständlich wie theatralisch beendete.

Das Fest wählt Gadamer als dritten Bezugspunkt der Kunst. Das Fest, sagt er, erfahren alle gleich: Es ist für alle da, es ist die beste Darstellung von Gemeinsamkeit. Und es markiert einen besonderen Moment, dessen Zeitwahrnehmung sich von der des Alltags stark unterscheidet. Gadamer spricht von der normalen, pragmatischen Erfahrung von Zeit, der Zeit „für etwas“, die es auszufüllen gilt, weil sie zunächst leer ist. Die Zeit des Festes – und die des Kunstwerks – ist hingegen von sich aus erfüllt. Das Fest ist da, und die Zeit ist erfüllt, es besitzt seine eigene Zeit, die nichts mit dem Wandern der Uhrzeiger auf der Uhr zu tun hat. Werke der Kunst haben ihre Eigenzeit, in die einer eintauchen muss; und ebenso verlangt Architektur nach mehr als dem Betrachten der Fassade als malerischem Prospekt: „Da muss man hingehen und hineingehen, da muss man heraustreten, da muss man herumgehen, muss sich allmählich erwandern und erwerben, was das Gebilde einem für das eigene Lebensgefühl und seine Erhöhung verheißt.“ Am 8. Mai 1995 öffnete sich das Haus der Kunst bis zum Dach, ein sonst nicht zugänglicher Ort mit einem sonst nicht zugänglichen Gefühl und einer hier sonst nicht hörbaren Musik. Das war Freiheit, über der Stadtlandschaft zu stehen, über den Bäumen des Parks und unter dem Nachthimmel. Jeder, der hochkam, stand mitten drin in dem Augenblick Ewigkeit.

Architektur als Fest, ein Spiel für alle.

 

Lisa Diedrich (Der Text erschien in abgewandelter Form zuerst in der Architekturzeitschrift arch+, Nr. 166/167)