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Von Italien lernen 1994

Info
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Von Italien lernen

Feldherrnhalle
München
1994

Ein Projekt der Freien Klasse im Rahmen der Einladung zu „150 Jahre Feldherrnhalle. Lebensraum einer Großstadt“ (1994).

Die Feldherrnhalle in München ist Teil des großstädtischen Lebensraumes, auch wenn es in der Praxis an Belebung und Verfügbarkeit des mitten in der Innenstadt gelegenen Ortes mangelt. Im Laufe der Geschichte ist dieses Bauwerk immer mehr zu einem belasteten historischen Gemäuer geworden, das unter dem Nationalsozialismus gar zum Mahnmal der Hauptstadt der Bewegung stilisiert wurde. Lädt man eine Künstlergruppe wie die Freie Klasse ein, sich damit zu beschäftigen, so ist nicht verwunderlich, dass sie ohne Berührungsängste agiert und unliebsame Themen nicht ausspart. Zentral für ihre Aktion im Rahmen der Ausstellung „150 Jahre Feldherrnhalle. Lebensraum einer Großstadt“ ist die Anspielung auf die vielschichtigen Bezüge zwischen Deutschland und Italien unter dem Motto „Von Italien lernen“. Diese nimmt im baugeschichtlichen Vorbild für die Feldherrnhalle, der Loggia die Lanzi in Florenz, ihren Ausgangspunkt: Die Feldherrnhalle wird im Verlauf der Aktion entlarvt als „geklaute“ Ruhmeshalle, als schlichte „Kopie“ des Vorbildes aus der italienischen Renaissance.

Die Freie Klasse plante zunächst, wie auf einer belebten italienischen Piazza ein temporäres Café auf dem Dach der Feldherrnhalle einzurichten, stieß damit aber bei den offiziellen Stellen der Stadt auf wenig Gegenliebe. Auch die weiteren Interventionen, die historisch brisante Verbindungen ins Auge fassen, konnten nicht realisiert werden. So war vorgesehen, einen italienischen Rennwagen in knallgelber Sonderlackierung in der Halle zu parken. Im Auto sollte ganz pietätlos eine Fertigpizzaschachtel liegen und italienische Rap-Musik aus der Anlage dröhnen. Zwischen den drei sich öffnenden Bögen des Gebäudes wollte die Künstlergruppe schmutzigbraune verfilzte Unterwäsche in Übergröße auf einer Leine aufhängen. Spuren des heutigen Italiens treffen auf gestrige Vergangenheit oder gar umgekehrt?

Da ihre Entwürfe Konzept bleiben mussten und nicht ausgeführt werden konnten, dienten die Hemmnisse vor Ort schließlich als Ausgangspunkt einer ausgeklügelten Aktion voll subversivem Humor: Wenn das Ding nicht gebraucht werden darf, wozu ist es dann überhaupt gut? Der Entschluss wurde in die Tat umgesetzt und das „unbrauchbare“ Gebäude an den Ort seines Ursprungs nach Florenz zurücktransportiert. Eine mehrteilige Fotostrecke dieser in eulenspiegelhafter Manier ausgeführten Aktion entstand, die verschiedene Etappen ausgehend von München über den Brenner entlang der Peradriatischen Naht, über die Poebene bis nach Florenz wiedergibt. Man sieht die Mitglieder der Freien Klasse teils unter vollem körperlichen Einsatz mit einer großen Fototafel der Feldherrnhalle auf dem Buckel über Alpenpässe und Bergtäler wandern – einen Weg, den bereits viele deutsche Künstler vor allem seit der Renaissance beschritten und der hier auf wunderbare Weise ironisiert wird. Verblüffend schließlich die Ankunft in Florenz: Eine Menschenmenge begrüßt die Aktionisten, man feiert den 50. Jahrestag des Widerstands und der Befreiung der Toskana. Das Spiel mit Wirklichkeit und Fiktion, so scheint es, hat hier seinen Höhepunkt erreicht. Als Bildfolge lässt es die inszenierten Handlungsabläufe der symbolischen Überführung sichtbar werden. Die Fotos sind Belege einzelner Szenen, die von der Abwesenheit möglicher Augenzeugen erzählen – eine Haltung, in der sich eine wesentliche konzeptionelle Auffassung von Fotografie äußert, die über das fotografische Ergebnis als Dokument hinausgeht.

Zurück in München stehen Gedanken über die Neunutzung des alten Geländes an: Ein Bebauungsplan für die Lücke wird erstellt, auf den eine Bautafel vor der Münchner Feldherrnhalle verweist. Die Idee für den Neubau an der Stelle der alten Feldherrnhalle ist – wie soll es anders sein – wiederum aus Italien importiert: Es handelt sich um den Neuentwurf eines Parkhauses, funktionale Architektur und städteplanerischer Wahnsinn in Reinform. Und wäre dem nicht schon genug: Das Parkhaus ähnelt auch noch dem faschistischen Palazzo della Civiltà bei Rom.

„Von Italien lernen?“ Einmal mehr werden unter diesem Titel soziale, historische, ökonomische und künstlerische Bedingungen des öffentlichen Raumes, der zum Aktionsraum wird, zum Gegenstand einer kontroversen Diskussion. Es geht dabei nicht zuletzt um den bewussten Umgang mit Denkmälern in städtischen Lebensräumen. Die Freie Klasse macht auf ironische Weise darauf aufmerksam, dass jede städtebauliche Maßnahme an eine räumliche, funktionale und damit auch kulturelle Kontinuität anschließt. Diese Gewichtung zwischen Fortschritt und Kontinuität, privater Verfügbarkeit und öffentlicher Verantwortung gegenüber dem Raum der Gesellschaft, dem öffentlichen Raum, beeinflusst letztlich auch alle ästhetischen Entscheidungen für Architektur, für Städtebau und damit auch für Kunst.

In einer Zeit aufdringlicher, überwuchernder Beiträge von Kunst im Stadtraum schlägt diese Aktion andere Töne an. Die eine Neudefinition des öffentlichen Raumes forcierende Aktion „Von Italien lernen“ begreift das Scheitern des ursprünglichen künstlerischen Vorhabens als Freisetzung kreativen Potenzials. Im Falle der Feldherrnhalle wird das vertrackte Spiel mit Vor- und Nachbild, Fiktion und Realität paradox ineinander verschachtelt und die ortsbezogene Intervention ins Extrem gesteigert – eine Aktion der Freien Klasse, die im Gedächtnis bleibt.

 

Patricia Drück