vorige Arbeit
nächste Arbeit
X

Im Scheitern liegt die Freiheit

Info
/

Im Scheitern liegt die Freiheit*

Co-Referat für den Kongress zur Bewertung der Zukunft auf Schloss Guttenburg am Inn

 

Ein über 15jähriges Abenteuer ist zu Ende: Die Freie Klasse ist gescheitert! Als diese Blitzmeldung über die Ticker und Netze der Welt raste, war vielen die Bedeutung der Nachricht noch nicht im vollen Umfang bewusst.

Nur langsam fand das global village zu sinngefälliger Reak­tion. Ein Echo, das uns jetzt und hier auf Schloss Guttenburg zusammengebracht hat. Von diesem traditionsreichen Platz am Inn aus wollen wir uns Klarheit verschaffen über das, was zum Scheitern führte, und vor allem: über den Weg, der nun eingeschlagen werden muss. Ich frage bewusst nicht „Was tun?“, denn diese Frage stellte die Freie Klasse bereits 1992 in Sofia, und die Antwort hat das Scheitern nicht verhindert. Deshalb bevorzuge ich an dieser Stelle eine nüchterne Bilanz und eine Besinnung auf die theoretische Basis der Freien Klasse. Verzeihen Sie mir den großen Bogen – aber ich sehe den Dreh- und Angelpunkt unserer Zusammenkunft in dem bereits von Cato d. Ä. ­formulierten Ceterum Censeo: ‚Wir haben mehr Fragen als Antworten – und wehe denen, die mehr Antworten als Fragen haben‘. Oder anders herum: ‚Cui Bono?‘ Wem nützt das Scheitern der Freien Klasse? (Kunstpause) – Ich meine: In allererster Linie nützt das Scheitern der Freien Klasse der Freien Klasse! Lassen Sie mich diese These nun in den nächsten 120 Minuten ausführen.

Zuerst möchte ich die vergangenen Jahre betrachten: 1987 gründete sich die Freie Klasse München als radikale künstlerische Kritik am künstlerischen akademischen Prinzip, um dann schnell über die langweiligen schulischen und seminaristischen Fragen hinauszugreifen. Wir alle erinnern uns an den gelben Leuchtkasten an der Münchener Kunstakademie; diese frühen Jahre sind im Gelben Katalog erschöpfend dokumentiert; eine Ausführung erspare ich mir an dieser Stelle.

Stattdessen möchte ich eine kurze Skizze des ewigen Scheiterns der Freien Klasse aufzeigen. Ein chronologischer Abriss: Der Versuch der Freien Klasse Kinski zu sein wurde als Fälschung entlarvt.

Die Wühlarbeiten der Freien Klasse ‚Unter Tage’ erregten zwar die Aufmerksamkeit des Bayerischen Rundfunks, konnten jedoch den Niedergang des Münchner Kohlereviers nicht aufhalten. Die zur Linderung der Deutschen Hautkrankheiten von der Freien Klasse empfohlene Salbe führte nachweislich zu Allergien. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) verbot zudem die Deutschen Hautkrankheiten.

Der Flop der ersten deutschen Weltausstellung der Freien Klasse in Türkheim wurde durch den Flop der zweiten ersten deutschen Weltausstellung in Hannover bei weitem übertroffen, doch ohne Zutun der Freien Klasse. Hier wären wir bei der alten Frage der Distributionsmacht – und damit eng verknüpft: der Frage nach der Definitionsmacht – Fragen also, deren Beantwortung die Freie Klasse immer verweigerte. Dazu später sicherlich mehr.

Die Entdeckung des Gelben Planeten 1992 ermöglichte der Freien Klasse zwar eine Reise in die unendlichen Weiten der Galaxis, und die Schönheit der neuen Welt versprach eine Alternative zum qualifizierten Jammertal des blauen Planeten, doch kurze Zeit später griffen Aliens die gelbe Welt an und der Planet stürzte in seine Sonne.

Der anschließende Versuch der Freien Klasse zumindest Europa zu retten führte in ein doppeltes Dilemma: Die Bastelarbeiten waren zwar einer uralten kulturgeschichtlichen Tradition verpflichtet, zerfielen aber von selbst, und das für die europäische Rettung zentrale gelbe russische Faltboot wurde wegen illegaler Einreise beschlagnahmt.

Die Freie Klasse München engagierte sich daraufhin wieder mehr lokal. Im Mittelpunkt stand die Modernisierung der bayerischen Landeshauptstadt. Ein alter Feind der Freien Klasse – die monarchistische Verwaltung der bayerischen Seen und Schlösser – verweigerte jedoch die zeitgemäße Ausstattung der Feldherrnhalle. Folgerichtig suchte die Freie Klasse Erkenntnis in einer Italienreise und brachte die Halle zurück an ihren Florentiner Ursprungsort, um dort, gemeinsam mit der Bevölkerung von Florenz, den 50. Jahrestag der Befreiung der Toskana vom Faschismus zu feiern. Erfüllt vom Geiste der Bella Ciao-Chöre führte die Italienreise zu neuer künstlerischer Reife. Mit vitalem Elan plante die Freie Klasse erneut den Umbau Münchens**, und es gelang die unnütze Feldherrnhalle durch ein funktionales Parkhaus zu ersetzen. Doch es scheint der Freien Klasse ein Menetekel geschrieben zu sein: Das Gebäude hatte statische Mängel, kippte und musste auf Geheiß des Stadtrates abgetragen werden. Auch das Ansuchen Pisas nach einer Städtepartnerschaft konnte das republikanische München nicht vom Wert solcher Referenz überzeugen.

In dieser nüchternen Auflistung des Scheiterns möchte ich jedoch nicht die Erfolge verschweigen: Von Italien lernen bedeutete für die Freie Klasse immerhin eine finanzielle Konsolidierung. Die Interprovinzial, die bereits den Investmentfond für das Parkhaus emittierte, war bereit, die Freie Klasse München als Sponsor unter Vertrag zu nehmen.

Und finanzielle Mittel waren nötig: Die Freie Klasse wagte sich an ein Abenteuer in der Kälte. Eine Expedition, die den ganzen Mann forderte. Ohne die Unterstützung von Interprovinzial wäre die Entwicklung der innovativen 2-B-Projektionstechnik nicht möglich gewesen. So war die Freie Klasse nicht nur die erste Survival-Crew, die in einem Münchner Bierkeller ihr Basislager aufschlug, sondern es gelang diese exotische Herausforderung an den Grenzen des Möglichen auch live in den Biergarten der Muffathalle zu übertragen. Hier wartete die Niederlage: Ein Fehler im technischen Equipment verursachte eine starke Abkühlung des Gartens und führte zum Erfrieren der Besucher. Die Schadensersatzprozesse sind bis heute nicht abgeschlossen und es ist streitig, ob derartige Verletzungen durch den Kunstvorbehalt gedeckt sind.

Im Zuge des Instanzenweges formulierte sich immer stärker die Kritik an der männlichen und eurozentristischen Herangehensweise der Freien Klasse. Konnte beim Abenteuer in der Kälte noch eingewandt werden, dass Frauen üblicherweise Besseres zu tun haben, als neuartige Technologien auf ihre Wetterfestigkeit zu testen, so mischte sich in den Applaus zum Schraubenmassaker – während der Jam-Session in der Aula der Akademie – deutliches Gejammer. Gerade diese klanglich-räumliche Inszenierung offenbarte die Widersprüchlichkeit aktueller Pop-Exkurse und ihrer Praxis. Erlauben Sie mir deshalb einen kurzen Verweis:

Bereits E.U. Ground hatte im Gespräch mit M. Kellner deutlich gemacht, dass die Freie Klasse sich im selben pubertären Umfeld bewegt wie die vielen Pop-Kapellen der Nachkriegszeit: Männlich, neue Frisur, falsches T-Shirt und irgendwie gut. Pop pur. „Aber was soll’s? Irgendwie geht’s doch um Inhalt“, meinte Kellner damals. Und genau da war der Knackpunkt: Was bedeuten Herrschaftsverhältnisse rückwärts gedacht? Darauf konnte die Freie Klasse zuerst nur eine Antwort finden: ‚Freiheit wie Krach aushalten‘ – doch sie stieß auf taube Ohren. Die zweite Antwort auf die Kritik, zu der die Freie Klasse fand, war ihre Absage an die Farbe Gelb. „Dann lassen wir das halt mit dem Gelb! Hautfarbe ist die Trendfarbe der Zukunft!“, hieß es im 12. Rundschreiben an den Sammler der Freien Klasse. Die Wahl der Hautfarbe scheiterte jedoch, da kein Kriterium gefunden werden konnte. So entschied sich die Freie Klasse stattdessen, ihr Engagement der Fleischfarbe zu widmen.

Im Nachhinein ist es uns allen klar, dass auch diese neue Strategie von vornherein zum Scheitern verurteilt war. Die von der Freien Klasse ins Leben gerufene Hilfsorganisation, „Hilfe Heilt Helfen“ (HHH), deren Corporate Design durch Fleischfarben gestützt war, wurde von der Realität schnell überholt. Die Benefizeinsätze der Bundeswehr verdrängten „Hilfe Heilt Helfen“ aus jeglicher Medienpräsenz, und um das Spendenfiasko perfekt zu machen: Immer mehr zahlungskräftiges Publikum bevorzugte kulinarische oder musikalische Darbietungen in geheizten und schön dekorierten Räumen, um dort seine caritative Gefälligkeit zu befriedigen. HHH erforderte hingegen einen zwar kapitalgünstigen, weil selbstorganisierten, aber dennoch kontinuierlichen Hilfseinsatz.

Um sich aus dem Sog der Niederlagen zu befreien, beschloss die Freie Klasse eine porentiefe innere Reinigung. Ihre Schaumwäsche erregte überraschend Aufmerksamkeit und wurde von der Fachwelt goutiert. Die Freie Klasse wähnte sich im Glück, doch in Wahrheit beschleunigte sich nun das Scheitern der Freien Klasse: Im Sieg der Schaumwäsche erkannten die lokalen Autoritäten ein christlich und soziales Unding und der Drahtseilakt auf dem Weißwurstäquator endete mit der Erkenntnis der Freien Klasse: „Esst mehr Obst!“. Im Frankfurter Exil arbeitete die Freie Klasse an ihrem Come-back. Doch damit begann das Ende des Desasters. Es wartete an einer Ecke, an der es niemand vermutet hätte: Die bisher immer großzügige Mäzenin, der Sponsor Interprovinzial, entzog ihre Unterstützung. Die Aktion der Freien Klasse „Die Karotten symbolisieren Bananen, die das Weltwirtschaftssystem repräsentieren, was hiermit aufgehoben wird“ konnte noch als produktives Missverständnis gewertet werden, das nur versehentlich Beifall sog. Globalisierungskritiker erhielt. Doch die Zweifel der Interprovinzial am Wert des Imagetransfers verdichteten sich, seitdem die Freie Klasse das Verfahren der Fruchttransplantation veröffentlicht hatte. Trotz erheblicher ästhetischer Zugeständnisse beharrte die Interprovinzial auf ihrem Veto. Die Freie Klasse war mit ihrer ökonomischen Basis am Ende und das hatte selbstverständlich auch Wirkungen auf den Überbau. Die Verschiebung der Koordinatensysteme zu ergründen, innovative geistige Tiefbohrungen vorzunehmen und vor allem die kulturelle Hegemonie zurückzugewinnen, das war das Ziel des Kongresses ‚Für die bessere Welt’, der zum ersten Mal alle Freien Klassen versammelte. Die Freunde aus Dublin habe ich schon erwähnt, die Freie Klasse Berlin, die damals frisch initialisierte Freie Klasse Wien und viele internationale Experten und Expertinnen des Bessermachens bildeten einen nicht zu unterschätzenden Think Tank mit ihren hilfreichen Projektionen. Leider fehlten die virtuelle Freie Klasse Stuttgart und die Freie Klasse Frauen aus Braunschweig, die ich an dieser Stelle herzlich grüßen möchte. Und die Freie Klasse Weissensee gab es damals noch nicht. Ob das zum Scheitern des Vorhabens beitrug, kann schwer nachvollzogen werden, unbestrittene Tatsache ist es jedenfalls. Einige Gründe: Da ist zum einen die Zeitschrift ‚Marmelade’, die die Botschaft in die Welt tragen sollte. Sie scheiterte an der Down-Load-Problematik proprietärer Formate. Zum anderen konnte der begehrte „Play Off Wanderpokal“, den die Freie Klasse München 1988 an der HdK in Berlin turnusgemäß errang, nicht weitergereicht werden. Ohne diese Trophäe blieb unklar, was nun wirklich besser ist: Reformismus oder Tat, Kritik oder Ignoranz, Humor oder Devianz, Generationenmodell oder Markenbildung, Türkis oder Gelb, Morgenröte oder Abendschau, Geld oder Leben, Faulheit oder Abenteuer. Damit befinden wir uns tief im Gründungsmythos der Freien Klassen, doch ich möchte dem Vortrag meiner Kollegin Judith Rerik nicht vorgreifen. Auf jeden Fall kann festgestellt werden: Die Welt wurde nicht besser. Um zumindest die Utopie zu verteidigen, bewaffnete sich die Freie Klasse und machte sich auf den einsamen Weg nach Dream City. Mindestens 45 Minuten wartete die Freie Klasse an einem S-Bahngleis, doch nichts geschah. Helden haben kein Gepäck, aber ohne Gepäck hält niemand lange durch, und der Sheriff besorgte den Rest. Um sich aus diesem Sumpf zu befreien, besann sich die Freie Klasse auf den Glamour der Sieger. Als deren warenförmiges Symbol erstand sie die Sitze des Münchner Olympiastadions. Auf diesen flog sie nun von Erfolg zu Erfolg. Wenn nichts dazwischengekommen wäre. Das Ende ist uns ja nun bekannt. Lassen Sie mich an dieser Stelle noch kurz darauf eingehen, warum das Scheitern der Freien Klasse so überraschend kam: Sie hatten alles, was ein Künstler heute braucht: Fleiß, Talent, Glück, einen Sammler, einen Sponsor, nicht zuletzt die Galeristen – gute Presse sowieso. Die Freie Klasse hatte auch ihr Material gefunden, ihre Farbe gewählt und souverän interdisziplinär gearbeitet. Was will man mehr. Salopp gesagt: Vielleicht gehört die Freie Klasse München einfach zu den buchlosen Konfessionen, und wir werden deshalb nie wirklich etwas ergründen können. Vielleicht hat auch der Sammler falsch taktiert: Vielleicht war es sein Fehler, die ‚Betenden Hände’, sicher eine Arbeit, die man mögen muss, unter Wert abzugeben. Der Markt kann tückisch sein, wenn ihm die Phantasie abhanden kommt. Womit ich zum zweiten Teil meines Vortrages komme, zu den theoretischen Grundlagen der Freien Klasse und den vielen politischen Fragen. Aber ich sehe bereits, dass mir die Minuten davongleiten. Ich werde deshalb hier etwas raffen. Ich hoffe, dass mir der Verweis auf einen entscheidenden Theoretiker noch gestattet ist: Raymond Black. Leider viel zu früh verstorben. Er war es, der das Londoner Szene-Fanzine „Shit Happens“ gründete. Letztlich ist es – neben der Freien Klasse Dublin – Raymond Black zu verdanken, dass die Freie Klasse München Cathy Sue kennenlernte. Zwar ist die Zusammenarbeit mit Cathy Sue mittlerweile an deren Einbindung in die Londoner Brit-Drawer-Szene gescheitert, war aber bis dahin durchwegs fruchtig. Bleiben wir erstmal bei Raymond Black, dessen Schriften die Freie Klasse nachhaltig beeinflussten. Er war es auch, der bereits in den 30er Jahren als DJ hervortrat – und dafür in Lissabon einen eigenen Stuhl erfand, damals freilich vollkommen unerkannt – und die Frage von Existenz und Freiheit als weites Feld begriff und auf den Pudels Kern brachte: „Ich höre, dass ich nichts höre“. So Black. „Wenn aber“ – so Black weiter – die freie Gesellschaft eines freien Individuums bedürfe „und das Individuum eigentlich nur eines hören kann, nämlich nichts, dann muss in der Konsequenz die Existenz alles sein“, so Black in seinen für ihn typischen Texten. Eine Existenz in Bewegung, denn nur in der Reibung liege das Leben, womit wir den Bogen gespannt hätten zum ausdifferenzierten Kosmos der Freien Klasse.

Konzentrieren wir uns also auf das Wesentliche. Zum Beispiel auf den spezifisch anarchistischen Ansatz, der mit dem Bamberger Stirner nichts zu tun hat – ein bekanntlich von marxistischer Seite gerne polemisch vorgebrachter Vorwurf -, sondern mit der südbayerischen Theoriebildung um Valentin und Mühsam. Auch die Rolle L. Feuchtwangers möchte ich nicht unerwähnt lassen. Um gleich zu Anfang jedem Vorwurf der Regionalität zu begegnen: Auch Vonnegut, Godard, Kinski, Pratt, nicht zu vergessen die Operaisten und der Tscharlie auf seinem Weg nach Sankta Maximilianä und die hervorragend sortierten Ramschkästen der Buchhandlungen der Maxvorstadt bilden einen diskursrelevanten Zusammenhang.

Doch all dies, was ich nun angesichts der fortgeschrittenen Zeit nur streifen kann, lässt eines offen: Was passiert mit der Freien Klasse, die durch die Verhältnisse hineingeworfen wurde in die Situation ihrer Gründung? „Eine Situation, die nicht statisch ist, sondern in Bewegung. Eine Bewegung, die wiederum in jeder Situation von der Freien Klasse erneut bewegt worden ist. Über 15 Jahre lang. Die aber nun gescheitert ist. Sozusagen eine Bewegung auf das Scheitern hin“. Sie merken schon, ich zitiere Fidelitas Casas, die ich bei dieser Gelegenheit auch gleich begrüßen möchte. Ich freue mich sehr, dass sie die lange Reise von Brasilien auf sich nahm und mit uns die Zukunft der Freien Klasse hier auf Schloss Guttenburg diskutieren wird.

Ich möchte last but not least einen Blick nach Tübingen werfen. Dort haben wir gelernt, dass jede Utopie zwar die Kulturlinie fortschreiten lässt, sich jedoch in ihrer Konkretisierung auflöst. Damit ist sie gescheitert. So geht das. Und deshalb lassen sie mich nun zu meinem entscheidenden Argument kommen, warum das Scheitern der Freien Klasse der Freien Klasse nützt: Utopien verhalten sich letztlich wie Gedanken, und Gedanken verhalten sich meist wie Frösche: Die Freiheit des Absprungs bestimmt den Sprung und der wiederum den Landeplatz, der in der Regel fürchterlich ist. In dieser Melancholie der Bewegung liegt der Grund für das Scheitern der Freien Klasse. Doch jeder Landeplatz ist zugleich der einzig mögliche nächste Absprung. Nicht der Scheitel des Sprungs, sondern der Punkt der Landung markiert das Scheitern. Und wenn wir nun diese Bewegung als mathematischen Limes denken, wird klar: Im Scheitern sind wir frei. Um die Freie Klasse zu zitieren: „Klasse! Frei!“. In diesem Sinne bedanke ich mich für Ihre Aufmerksamkeit.

 

Protokoll der Plenardiskussion:

Unbekannt (männlich): „Wieso ging eigentlich die Zusammenarbeit mit Cathy Sue daneben? Ich denke London hätte eine fruchtbare Perspektive sein können.“

R.F.O. Aukofer: „War sie ja auch!“

Unbekannt (männlich): „Das sehe ich nicht so!“

Dr. Rhein-Meyerhofer (Moderator): „Bitte beschränken Sie sich auf Fragen. Mein Vorschlag wäre, dass ich erst einmal alle Fragen sammle.“

Gerlinde Fuchs: „Warum ist die Freie Klasse eine freie Klasse, obwohl ihr doch das revolutionäre Subjekt fehlt?“

R.F.O. Aukofer: „Sie ist doch eine freie Klasse, sozusagen ein Befreiungsakt. Denken Sie an das ‚Making of the Working Class’, selbstverständlich reflektiert an Fanons Kritik. Sie ist auf keinen Fall eine angewandte oder benutzte Klasse.“

Gerlinde Fuchs: „Ich war vor kurzem in L.A. und habe dort das Lager der Freien Klasse gesucht und nicht gefunden. Nicht einmal der Taxifahrer kannte die Adresse (unverständlich).“

R.F.O. Aukofer: „Wahrscheinlich haben Sie am Trinkgeld gegeizt!“

Fidelitas Casas: „Vielleicht kann ich hier... (unverständlich). Ich denke wir müssen differenzieren zwischen dem Konzept des Territoriums und dem Prozess als solchem... (fällt in eine Fremdsprache)...

Dr. Rhein-Meyerhofer: „Wir haben leider keine Simultanübersetzung Frau Casas – und gehen Sie bitte näher ans Mikro:

Fidelitas Casas: ... zwischen Neighbourhood und Posse. Die Freie Klasse hat sich immer auf letzteres bezogen, sozusagen innerhalb und über das erstere hinaus. Also vielleicht ein oszillierendes Ding zwischen Bolte und Malatesta.

Gerlinde Fuchs: „Gibt es das Lager in L.A. nun oder nicht – und was ist an dem Gerücht dran, dass dort die Schwester von Cathy Sue wohnen soll?“

R.F.O. Aukofer: „Wer verbreitet das?“

Hilde Hoffner: „Das ist doch nun wohl nur noch ekelhafte Metropolenhierarchie, die sie da auflegen. Eine ganz alte Platte. Vielleicht solltet ihr mal die Rille wechseln. Ich kann Fidelitas nur zustimmen. Im übrigen: Seit dem Wasserschaden ist die Geschichte doch eh‘ gegessen. Und wenn Sie sich die Sache mit der europäischen Banane ansehen und den Solitären. Aber wir müssen nicht von dieser Seite her kommen, wir können auch zurückgehen auf den Erfolg, der im Katalog zu Sofia zitiert scheint.“

Gerlinde Fuchs: „Das was Sie da mit der Rille gesagt haben, empfinde ich beleidigend. Das ist unglaublich, was sich da auftut. Auch wenn wir über die Definition der Metropole nachdenken müssen; ich bin auch kein Befürworter, jetzt von einer Art Leopardenfell zu reden. Was mich interessiert ist die Kommunikationsstruktur bei solch einem kollektiven Projekt. Auch dieses Herumreiten auf Cathy Sue nervt. Autor, Handwerk, sagen Sie doch gleich, dass Sie die Renaissance für einen Fehler halten. Absurd. Also nach den 80ern und den 90ern, ist jetzt ein neues Dezennium, und wo ist da die Freie Klasse, das ist doch der Punkt. Ich meine, gibt es noch eine Perspektive kollektiven Handelns? Entsteht entlang sozialer Netzwerke Kunst und wie verhandeln wir das?“

Dr. Rhein-Meyerhofer: „Ich bitte Sie, sich auf Fragen zu beschränken und keine Co-Referate zu halten.“

Jürgen Velho: „Ich habe Arbeiten der Freien Klasse gekauft, und sie sind nun nicht im geplanten Museum. Mich würde interessieren, was das heißt? Ich meine, wenn ich jetzt verkaufe?“

R.F.O. Aukofer: „Ich würde auf jeden Fall für Halten plädieren. Keine Frage. Nun, da das Scheitern offenbar ist, wird das ja alles sehr rar. Und dass die Erzählung der Freien Klassen weitergeht, da sehen wir doch, dass das Konzept trägt.“

Unbekannt (männlich): „Fragt sich nur, für wen.“

Gerlinde Fuchs: „Da gibt es doch keinen Zusammenhang. Was haben die Freien Klassen denn gemeinsam? Das ist doch pure Konstruktion.“

Dr. Rhein-Meyerhofer: „Mit Verlaub: Da widersprechen Sie sich jetzt. Vorhin stellten Sie die Frage nach dem aktuellem Dezennium, und was kann die Freie Klasse München hierfür leisten, und nun wollen Sie zurück in die Debatte der 90er. Vielleicht könnten Sie, Frau Rerik, hier in Ihrem Vortrag zur Klärung beitragen?“

Judith Rerik: „Mein Vortrag ist streng wissenschaftlich. Also es geht mir mehr um die Entstehung der Freien Klassen und um Appropriation, also wer appropriiert eigentlich wen, usw. Aber ich möchte sagen: Der Zusammenhang entsteht durch die Sammlung. Und die Frage ist, wie wird das Werk der Freien Klasse durch die Musealisierung nun verändert; ja, also wir haben nun dieses Ding, und das auch noch als Parasit. Und damit müssen wir umgehen. Also: Kann sich nun noch eine Freie Klasse gründen, wenn es doch bereits ein Museum gibt? Wo ist die subversive Kraft angesichts des Musealisierten oder auf der anderen Seite: Welche zeitgenössische künstlerische Bewegung, egal ob nun Zusammenhang oder nicht, hat schon ein eigenes Museum? Wir sollten das nicht unterschätzen. Aber so eine Institutionalisierung verändert natürlich was. Gerade die Freie Klasse München war ja immer gallertartig: Zugreifen und nichts in der Hand haben. Und nun gibt es dieses Museum und sie müssen sozusagen eine Bahnsteigkarte lösen.“

Dr. Rhein-Meyerhofer: „Vielen Dank, Frau Rerik, ich denke, hier könnten wir nach der Kaffeepause gut mit ihrem Vortrag anknüpfen. Gibt es noch weitere Fragen, ansonsten würde ich zum Schluss kommen.“

Justus Klinker: „Ich habe mal gelesen, die Freie Klasse hätte auch einen Hund. Stimmt das?“

R.F.O. Aukofer: „Jein. Es gab einen Andi, den einzigen Hund mit einer blonden Perücke. Und er gehörte zur Ateliergemeinschaft Herzogstraße Zwei. Das war eine Soap, die die Freie Klasse fürs Privatfernsehen machen wollte. Aber das ist nun Jahre her und längst gescheitert. Ich bin in meinem Vortrag bewusst nicht auf die Auftragsarbeiten eingegangen, sondern auf das freie Schaffen. Stichwort z.B. Müttergenesungswerk. Auch diese Auftragsarbeit gäbe viel Stoff für eine Debatte des Scheiterns. Oder denken Sie an die Lincolnstraße, die Restpfennigsache: Dürfen junge Mädchen Bagger fahren? Darüber sollten wir wirklich reden.“

Unbekannt (männlich): „Welche Bedeutung hat die Farbe Türkis in ihrem Werk?“

R.F.O. Aukofer: „Hatte – ich bin für Genauigkeit: Hatte! – die Freie Klasse ist gescheitert!. Präsens.

 

R.F.O. Aukofer

 

 

* „Gut gescheitert“ heißt ein Comic von Cathy-Sue, der das Scheitern der Freien Klasse ahnend vorwegnimmt. Zu beziehen über ‚Shit Happens Bookmarks’.

 

** Die Freie Klasse beabsichtigte die Modernisierung Münchens auch mit zwei weiteren Vorhaben, zu denen sie eingeladen wurde:

Im Kunst-am-Bau-Wettbewerb für das Bürgerhaus Milbertshofen schlug sie für das von Migration gekennzeichnete Stadtviertel, das gerne mit einer mangelnden Identität kokettiert, eine öffentliche Arena vor, die Identität als Ergebnis promenadologischen Abhängens begreift. Für den Wettbewerb Kunst-im-Öffentlichen-Raum projektierte sie eine aus dem Wassergraben versorgte wasserpistolengestützte ‚Löwen-Abschuss-Anlage’ für den Vorplatz der bayerischen Staatskanzlei, einem klassischen Münchner Nichtort der High-Surveillance. Beide Projekte scheiterten an den Eigentumsverhältnissen des öffentlichen Raums.