Prolog von Heinz Schuetz

In einem Rundfunkinterview äußert sich H. Hiller im Dezember 1989 über die von der Freien Klasse präsentierte Ausstellung „Junge Kunst aus Moskau“: „Besonders viel haben wir eigentlich selber nicht erfahren über die Künstler, die hier ausgestellt haben. Wir konnten uns ein ungefähres Bild machen, aber im Grunde genommen wissen wir nicht mal, ob die Künstler jemand anders geschickt haben oder vielleicht aus staatssicherheitlichen Erwägungen Ersatzkünstler geschickt wurden oder die wirklichen Künstler, die wirklichen Macher gar nicht ausreisen oder einreisen durften.“ Wer sind die wirklichen Künstler und Macher? Wer agiert hier? Welche politischen Kräfte sind am Werk? – Antworten auf derartige Fragen klären den ontologischen Status der „Moskauer Künstler“ und verdeutlichen die von der Freien Klasse bis heute eingesetzten künstlerischen Strategien der Fiktionalisierung und das damit verbundene Künstler-Kunst-Verständnis.

Bereits Hillers Rundfunkstatement, das er im Namen der Freien Klasse abgibt, basiert auf mehrfachen Fiktionen. Anders als 

öffentlich behauptet wurde, produzierten nicht Moskauer Künstler die damals in der Akademie-Aula präsentierte „Junge Kunst aus Moskau“, sondern die Mitglieder der Freien Klasse. Sie stellten materiale Werke her, gaben ihnen einen Titel und fingierten über die postulierte Autorenschaft „Moskauer Künstler“ als Produzenten. Dabei ergibt sich ein besonderes, vom traditionellen Kunstverständnis der Moderne abweichendes Verhältnis zwischen realem Autor, fiktivem Autor und Werk. 

Das in der Moderne dominierende Kunstparadigma verknüpft das Kunstwerk aufs Engste mit dem Autor. Unter dieser Prämisse steht ein Werk nicht einfach für sich, sondern ist immer das Werk eines bestimmten Künstlers. Bereits die kollektive Produktion der Freien Klasse widerstreitet dieser Prämisse: Unabhängig davon, wie eine Arbeit entsteht und auf welche Weise die einzelnen Gruppenmitglieder in deren Produktion involviert sind, firmiert das Produkt als eine Arbeit der Freien Klasse. Die Autorenschaft wird dabei ans Kollektiv überantwortet, wobei sich die Freie Klasse gerne mit verschiedenen öffentlichen Rollen tarnt. (Siehe unten!) Im Gegensatz zu den produktionstheoretischen Kunstpostulaten der Moderne handelt es sich bei Kollektiven und Gruppen um keine eigenständigen, sich veräußernden Subjekte. Sie ähneln in ihrer Produktionsweise eher Firmen, unter deren Dach und Namen die Produktion erfolgt. Zumindest aus Sicht der klassischen Moderne ist die Freie Klasse als Autor - sprich: künstlerisches Subjekt - eine Fiktion. Darin nun ähnelt sie durchaus dem frühen Konstrukt „Moskauer Künstler“.

Ein weiterer fiktionaler Aspekt kommt ins Spiel, betrachtet man die Entstehungsgeschichte der Freien Klasse im Kontext der Münchener Kunstakademie. Ganz im Sinne der tradierten Subjektorientierung stellt das herrschende Klassensystem einzelne Künstler als Professor ins Zentrum und verpflichtet die Kunststudenten, sich in eine derartige Haupt-Künstler-Klasse einzuschreiben. Im Gegensatz dazu gründete die Freie Klasse eine Klasse ohne Lehrer. Das kunstakademische System sieht eine derartige Einrichtung nicht vor. Unter institutioneller Perspektive ist die Freie Klasse eine Fiktion und doch agierte sie innerhalb der Akademie und übertrug damit jenen Anspruch, der sich mit der Behauptung „freie Kunst“ verbindet, auf das Klassensystem. In diesem sozusagen fiktionalen Überhang liegt die strategische Stärke der Freien Klasse: Etwas zu behaupten, was eigentlich nicht existiert und aufgrund dieser Behauptung zu agieren und damit Reaktionen auszulösen.So gab etwa die Gründung der Freien Klasse in München den Anstoß dafür, dass an anderen Kunstakademien ebenfalls freie Klassen ausgerufen wurden. Nachdem die Mitglieder der „Urgruppe“ die Münchner Akademie absolviert haben, behalten sie ihren Namen als künstlerische Konstruktion bei. Abgelöst vom akademischen Betrieb färbt sich der Begriff „Klasse“ stärker soziologisch ein. Die Behauptung „frei“ kann dabei als Utopie gelesen werden. Als Deskription eines Zustandes beinhaltet sie ein Scheitern. Freiheit, die einer Klasse zugesprochen wird, impliziert zwangsläufig die Unfreiheit der anderen. 

Nochmals zurück zur Moskau-Ausstellung als einem bis heute gültigen Paradigma für die fiktionalen Strategien der Freien Klasse: Produzenten der ausgestellten Artefakte sind die einzelnen Künstler der Gruppe, deren „Handschrift“ in den Exponaten durchaus erkennbar ist. Die individuelle Autorenschaft bleibt im Sinne der Gesamtidee unbenannt, um dann mit der Erfindung von „Moskauer Künstlern“ auf einer imaginären Ebene restituiert zu werden. Als Objekte sind die Exponate real, als „Moskauer“ Kunstwerke fiktiv. Aber erst als fiktive Kunstwerke werden sie zu realen. Das materiale Exponat ist, wie in den meisten Arbeiten der Freien Klasse, Teil eines Konzepts, das mit Fiktionen auf verschiedenen Ebenen arbeitet. Um das Fiktive zu stabilisieren und gleichzeitig doch identitätstheoretische Zweifel zu säen, weist das eingangs zitierte Statement auf die politischen Verhältnisse in der Sowjetunion und die angeblich nicht geklärte Identität der „Moskauer Künstler“. Das heißt, die Ausstellung basiert nicht nur auf fingierten Künstlern, sondern auch auf realen Künstlern die in diesem Fall unwissende Kuratoren fingieren. Hinzu kommt die fingierte Realisierung und damit ironische Konterkarierung des im Zuge der Perestroika boomenden Ausstellungstypus „Kunst aus Russland“. 

Die Kunstpraxis der Freien Klasse ereignet sich gewöhnlich im Rahmen von übergeordneten Konzepten, die aufs Engste mit dem Einsatz von Fiktionen, mit Kontextbezügen und performativen Auftritten verbunden sind. Hand in Hand damit geht eine elementare Lust am Rollenspiel und an Kostümierung. Eine der frühesten Arbeiten, die Fotoaktion „Schutzfaktor Gelb“ (1987), basiert auf der Farbe Gelb, der Farbe, die die Freie Klasse bis heute als ihre Corporate-Identity-Farbe verwendet. Eine ganz in gelb gekleidete Person – Schuhe gelb, Socken gelb, Pullover gelb, Jacke gelb, Mütze gelb – steigt die Treppen der Münchner Kunstakademie hoch. Ein Schild vor der Eingangstüre bittet im Namen der Professoren, aus Sicherheitsgründen auf dem Weg zur Akademie die „dafür vorgesehene gelbe Präventivkleidung“ zu verwenden. Durchaus symptomatisch für die Arbeit der Freien Klasse ist, dass sie den Einsatz von Gelb nicht mit malerischen Wirkungen oder idealistisch-symbolischen Farbtheorien begründet, sondern auf Gelb als Signalfarbe in der Alltagspraxis rekurriert. Nicht von ungefähr wird dabei ein von Verordnungen begleitetes Sicherheitsbedürfnis parodistisch auf die Spitze getrieben, wobei das allgemeine Sicherheitsbedürfnis bis heute zunehmend extremere Formen angenommen hat und zu immer strengeren Auflagen und Kontrollen führte. Dort, wo Sicherheit suggeriert wird, dort, wo um Sicherheit zu garantieren, hierarchisiert und „zementiert“, überwacht und überprüft wird, dort zielen die fiktionalen Strategien der Freien Klasse ironisch auf Verunsicherung.

Eine Reihe von Kostümierungen kann mit dem Feld von Sicherheit und Bedrohung in Verbindung gebracht werden. In Polizeiuniform flankiert die Freie Klasse im Jahr 2014 eine von Georg Winter initiierte Doppeldemonstration für und gegen die Produktion eines imaginären Beuysfilms. Die Nichtunterscheidbarkeit zwischen wirklichen und fingierten Polizisten verwirrt die Vorstellung polizeilicher Autorität samt den von ihr durchzusetzenden Ordnungsstrukturen. In „Tatort“, ein Subprojekt von „Haus der Gegenwart“ (2004-2005), wird ein Musterhaus zum Schauplatz eines potenziellen Verbrechens erklärt. Es ermöglicht den Auftritt als Polizisten und spurensichernden Kriminalisten. Mit Funktionsanzügen, die an Operationssäle, Weltraumindustrie und Reinigungsgesellschaften denken lassen, wird in der Aktion „Hilfe Heilt Helfen“ (1996)  der Gestus des Helfens ad absurdum geführt. In „Rettet Europa II“ (2006) imitiert die Gruppe in blauen Overalls und mit gelben Handschuhen als revueartiges Tableau vivant  die Europäische Flagge. Ein gelbes, in Russland produziertes Schlauchboot, das in einem Schaufenster in Sofia entdeckt wurde, dient als Rettungsboot. Der Impetus der Rettung löst sich ab vom denkbaren Anlass und wird zur sinn- und hilflos um sich selbst kreisenden Geste.

Einer der ersten öffentlichen Auftritte fand im Jahr 1990 vor der Münchner Akademie statt. Verkleidet als Bauherr, Architekt und Polier legte die Freie Klasse den Grundstein für einen fingierten Erweiterungsbau, Der reale, bereits 1992 in einem Wettbewerb entschiedene Neubau von Coop Himmelb(l)au wurde erst 2005 errichtet. Der Architekturbezug ist ein durchgängiger Topos in der Arbeit der Freien Klasse. Er reicht vom plakatierten Vorschlag eines Anbaus an die Pinakothek der Moderne (2003) über den projektierten Umgang mit den ehemaligen Sitzmöbeln des Olympiastadions (2002) und die Realisierung des futuristisch anmutenden Lichtspenders  „Platz an der Sonne“ als Kunst am Bau (2014) bis zur Konstruktion eines solitären, multifunktionalen Raumes für schulische Experimente mit  „Freie Klasse macht Schule“ (2004). Die Architektur, insofern sie denn tatsächlich gebaut wird, funktioniert als eine Art Realitätsprinzip im fiktionalen Kosmos, wobei ein Architekturprojekt wie das zuletzt genannte einen Möglichkeitsraum eröffnet, den es partizipativ zu füllen gilt. 

Der Hang zum Fiktionalen findet nicht zuletzt einen deutlichen Ausdruck in der Affinität zum Film. Auch sie zeigt sich bereits früh, wenn in der Fotoserie „Die Freie Klasse ist Kinski“ (1992) einzelne Szenen von Filmrollen des Schauspielers nachgestellt werden. Kinskis Furor des Expressiven erweist sich in der Wiederholung als monströses Konstrukt und als eine ihren hochemotionalen Kern verzehrende Maskerade, als Fiktionales im Fiktionalen. Auf dem sozusagen anderen Ende der Gefühlsskala realisiert die Freie Klasse eigene kurze Filme, die in äußerster Reduktion das Kino als Emotions- und Narrationsmaschine unterlaufen: „Helden“ etwa spielt mit Westernfilm-Elementen, mit Cowboykostüm, Colt und Bahngleis. Die einzige Kameraeinstellung zeigt vor der Schiene gelb (!) behandschuhte Hände am Colthalfter und sonst geschieht nichts. „Roadmovie“ handelt nicht von Fahrten durch Landschaften und Städte, sondern von einem kurzen Taxiaufenthalt an einer Tankstelle. Mit großformatigen Bildern, die an Filmplakatmalerei erinnern, transformiert die Freie Klasse die eigenen Auftritte ins Filmische und potenziert damit das in ihnen angelegte Fiktionale. Selbst die vorliegende Publikation spielt auf den Film an, wenn sie mit dem Teil „Abspann“ endet.

Architektur- und Filmbezug, Rollenspiel und Fiktionalisierung kulminieren gewissermaßen in dem Projekt „Haus der Gegenwart“ (2004-2005). Ausgangspunkt und Schauplatz ist ein als Hausmodell der Zukunft entworfenes Gebäude. Das Fiktionale des Films kommt über die Anspielung auf die Krimiserie „Tatort“ ins Spiel, das Rollenspiel über den kostümierten Auftritt der Freien Klasse. Das Subprojekt „Leider sind wir nicht zu Hause“ animiert die Rezipienten selbst aktiv mitzuwirken und mit den imaginären Bewohnern des Hauses imaginär zu kommunizieren. Das Subprojekt „Was bisher geschah“ lädt Schriftsteller ein, den angelegten Plot mit den Mitteln der Schriftstellerei weiter- und umzuschreiben respektive zu kommentieren. Das Fiktionale des Ausgangspunkts wird mit fiktionalen Texten potenziert. 

Im Kontext der Bildenden Kunst arbeitet die Freie Klasse immer wieder jenseits institutionalisierter Ausstellungsräume mit konzeptuellen und performativen, mit kontext- und architekturspezifischen Strategien. Die Unterminierung des Bestehenden durch dessen fiktionale Anverwandlung lässt sich mit situationistischen Methoden in Verbindung bringen, wobei die Freie Klasse, im Gegensatz zum Situationismus Dedordscher Prägung, keine gezielt politische Ausrichtung verfolgt und sich mit der Zelebrierung des Absurden und der Freisetzung des Spieltriebs in ein latent postdadadistisches Fahrwasser begibt, was politische Bezüge wiederum keineswegs ausschließt. Insofern Politik immer auch die Organisation von Machtverhältnissen beinhaltet, verweist die Vorführung des Scheiterns auf ein Moment der Ohnmacht, das der Macht entgegengehalten wird. Das ständige Scheitern ist im Projekt Freie Klasse nicht nur angelegt, es wird von ihr bewusst zelebriert. Darin folgt sie der immanenten Logik der Fiktionalisierung und der Behauptung, dass etwas, was nicht ist, ist. Eine Aktion wie „ Freie Klasse hängt Diktatoren auf“ (2008) basiert auf einem Wortspiel. Der revolutionäre Akt, der Freiheit zu ihrem Recht zu verhelfen, entpuppt sich hier als Geste der Ohnmacht, wenn nicht reale Diktatoren, sondern Diktatorenfotos von den als Welthelfern kostümierten Angehörigen der Freien Klasse an die Wand gehängt werden. 

Nach über zwei Jahrzehnten gemeinsam inszenierter Sisyphosarbeit gibt die Freie Klasse nicht auf und geht mit ihrem Durchhalte-Projekt  „Freie Klasse denkt weiter nach!“ (2007) an die Öffentlichkeit. In einem partizipatorischen Aufruf bittet sie für eine Ausstellung um die Einreichung von Fotos mit Nachdenkenden. Die Gesten des Nachdenkens werden sichtbar, der Gedanke selbst entzieht sich. Für den Betrachter bleibt er ein nicht wahrnehmbares Konstrukt, eine Art Fiktion im Kopf der Denkenden.

Bis in die jüngste Gegenwart hinein setzt die Freie Klasse ihr bereits im Jahr 1993 begonnenes Projekt „Rettet Europa!“ fort. Erst in jüngerer Zeit wurde der Hilferuf zu einem unumstößlichen Bestandteil der politisch-medialen Realität. Im Sinne ihres absurden Spiels spielt die Freie Klasse darauf an, dass womöglich mit Hilfe des kleinen gelben, in Russland produzierten Gummiboots so etwas wie Rettung möglich sei. Derartigen absurden Gesten kann zweifellos die Realität entgegengehalten werden. Nur, betrachtet man die Realität, zumal was die politischen Rettungsversuche Europas anbelangt, zeigt sich, dass das Fiktionale ein essentieller Bestandteil des Politischen wurde respektive immer schon war. Das Politische ist nicht nur real, das Fiktionale ist ein Kostüm der realen Macht, mit deren Hilfe sie sich zu behaupten versucht.